1874: Die Steiermark als Zentrum der österreichischen Sozialdemokratie

Zu Beginn der 1870er-Jahre erhielt die sozialdemokratische Bewegung regen Zulauf. In den großen Städten und Industriegemeinden Österreichs entstanden zahlreiche neue Arbeiterbildungsvereine. Der Aufschwung führte aber auch zu gröberen internen Richtungsstreitigkeiten. Dabei standen sich vor allem reformorientierte Sozialdemokraten und Anarchisten gegenüber. Die Steiermark war von diesen Konflikten nicht so stark betroffen wie Wien. Daher verfügten die GenossInnen in der grünen Mark über eine besonders starke Stellung innerhalb der Bewegung. Grazer SozialdemokratInnen um Hippolyt Tauschinski bemühten sich angesichts der lähmenden Spannungen 1874 massiv um einen Ausgleich. Es gelang ihnen schließlich den ersten Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie einzuberufen. Dieser hätte ursprünglich in Baden stattfinden sollen. Aufgrund eines behördlichen Verbotes wich man aber ins burgenländische Neudörfl aus, das damals zur ungarischen Reichshälfte gehörte. Am 5. April verabschiedeten 70 Delegierte schließlich ein 9-Punkte-Programm mit für die damalige Zeit revolutionären Forderungen. So sprach man sich unter anderem für die Pressefreiheit, das freie Wahlrecht und die Trennung von Kirche und Staat aus. Aufgrund der führenden Rolle von steirischen GenossInnen wurde die Zentrale der Sozialdemokratie nach Graz verlegt. Diese Entscheidung hatte jedoch kaum praktische Bedeutung. Unmittelbar nach Verabschiedung des Programms setzte eine Verhaftungswelle ein, welche die wichtigsten sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten traf. Die staatliche Repression nahm in der Folge kontinuierlich zu. In den folgenden 15 Jahren lähmte sie die Weiterentwicklung der österreichischen Sozialdemokratie noch stärker als alle internen Konflikte. Obwohl die Bewegung in den nächsten eineinhalb Jahrzehnten stagnierte hörte sie nicht zu bestehen auf. Bis zur Einigung sollte jedoch noch einige Zeit vergehen.